»Es bedarf der ›Ausbrecher‹, die Benjamins Bilder und Gedanken in ihrem Gepäck mit sich führen, um ihnen auch gerecht werden zu können: Nicht inner-, sondern außerhalb seines Textgeländes«
Es ist mehr als bloß ein Zufall, dass von allen Protagonisten der Kritischen Theorie ausgerechnet Walter Benjamin, „zur eigent lichen AchtundsechzigerIkone“ (Karl Heinz Bohrer) wurde. Niemand anderes als dieser vom Glück Verlassene stand so sehr für den existenziellen Ernst des Denkens. Als Adorno ihn 1938 aufforderte, sich in Sicherheit zu bringen, weigerte er sich mit dem Hinweis, dass es„in Europa noch Positionen zu vertei digen“ gebe, und bezahlte letztlich mit seinem Leben dafür.
Sein fragmentiertes, oft enigmatisches Werk drückt eine radi kale Haltung aus: die eines Gefährdeten, der die Fragilität der Moderne selbst ins Zentrum seiner Theoriebildung gestellt hatte. Diese existentielle Dimension unterschied ihn von seinen Weggefährten.
Doch dem Umgang mit seinem erst im Nachhinein legendär gewordenen Werk haftet häufig etwas Epigonenhaftes an – als ob nicht gerade Widerspruch und Kritik Treue zum Denken Benjamins ausmachten: Nur wer auch in theoretischer Hinsicht den jeweiligen „Glutkern Aktualität“ einer Aufgabe zu suchen und zu bergen bereit ist, leistet ihm die Gefolgschaft, die seinem Werk angemessen ist. Insofern ist es höchste Zeit, Benjamin gegen seine Bewunderer zu verteidigen.
Buchbesprechung
in “Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik”:
Zeitzeuge einer Rezeption
Wolfgang Kraushaar und die Umrisslinien eines politischen Bildes Walter Benjamins
Von Wolfgang Bock
Ein weiterer Band zu Walter Benjamin?
Die Titel der Reihe der Europäischen Verlagsanstalt ad … wollen offenkundig an das Bändchen Ad Carl Schmitt: Gegenstrebige Fügung erinnern, in dem Jacob Taubes 1987 auf den umstrittenen deutschen Verfassungsrechtler Schmitt aufmerksam macht, mit dem Walter Benjamin einen Briefwechsel führte. Das Buch von Wolfgang Kraushaar: ad Walter Benjamin. Eine Verteidigung gegen seine Bewunderer kommt damit darüber hinaus auch neben anderen Zeugnissen zu stehen, wie sie von Benjamins Zeitgenossen abgegeben werden. Zwar ist Kraushaar kein Zeitzeuge Benjamins, dazu ist er zu jung; wohl aber besitzt er das richtige Alter, um wie kaum ein anderer die Benjamin-Rezeption innerhalb der studentischen Protestbewegung zu überblicken. Kraushaar ist der Chronist des Protests und des linken Terrorismus in Deutschland. Vor allem aber gilt: ihn treiben politische Fragen um.
Eine frühe Verhinderung als lebenslanger Zugang
In den fünf Texten geht es so auch immer um biografische Motive in Kraushaars Beschäftigung mit Benjamin. Kraushaar schildert, wie er über die „Suhrkamp-Kultur“ zu dessen Texten kommt und es seinerzeit wagte, ein Dissertationsthema zu wählen, das mit noch nicht herausgegebenen Texten Benjamins, nämlich denen zum Passagenwerk, zu tun hatte. Hier beißt er bei dem Herausgeber Rolf Tiedemann frühzeitig auf Granit. Tiedemann hatte sich selbst im Hinblick auf die Freigabe von Manuskripten aus dem Frankfurter Archiv eine unumschränkte Priorität eingeräumt. Dahinter mussten alle anderen Forschungsinteressen zurückstehen. Auch Kraushaar durfte seine Arbeit über die politische Bedeutung des Fetischcharakters der Ware im Passagenwerk nicht schreiben. Ihm wurde kein Einblick in die Manuskripte gewährt, bevor Tiedemann 1982 seine Auswahl des Passagenwerks entsprechend kommentiert und veröffentlicht hatte. Kraushaar nahm es mit Humor. Er sagte sich: Wer weiß, wozu das gut ist und schrieb eine andere Doktorarbeit. Das Projekt aber begleitet ihn weiterhin sein Leben lang. Davon handelt das vorliegende Buch.
Produktive Bruchstücke einer politischen Rekonstruktion
Die biografische Verbindung gesteht der Autor gleich im ersten Vortrag ein. Wie der österreichische Autor Robert Menasse in seinem Roman Selige Zeiten, brüchige Welt (1991) von seiner Hegellektüre, so berichtet Kraushaar zunächst von seinen Erfahrungen mit der Lektüre Benjamins innerhalb der Studentenbewegung. Und wie Menasse dann anschließend seinen Dissertationstext Phänomenologie der Entgeisterung: Geschichte des verschwindenden Wissens (1995) als Nachschrift veröffentlich, so schiebt Kraushaar nun sein Exposé der ungeschriebenen Doktorarbeit hinterher. Die Leser erkennen: es hätte ein noch wichtigerer Beitrag zum politisch verkannten Benjamin werden können und vielleicht auch frühzeitig auf die Ordnung der Manuskripte Einfluss genommen. Das hätte sie möglicherweise bereits auf der Ebene des Materials vor der Entstellung gerettet, in der sie heute in der Publikation vorliegen.
Denn Kraushaar fokussiert konsequent auf Benjamins rhapsodischen Politikbegriff, der auf eine Unterbrechung des Bestehenden aus ist. Der bedient sich bei den Anarchisten Sorel, Bakunin, bei Blanqui und besitzt eine gewaltige Verwandtschaft mit Trotzki. Wie Kraushaar zeigt, ist Benjamin Antihegelianer und mag auch dessen Begriffe der Vermittlung und der „Durchdialektisierung“ nicht, mit denen ihn dann Adorno in den Dreißigerjahren traktiert, seine eigenen Überlegungen zur Dialektik systematisch zerstört und dort hintertreibt, wo Tiedemann und die Seinen dann weitermachen. Kraushaar erkennt dagegen bereits, dass Benjamin auf einen spontanen, nicht abgeleiteten Eingriff einer direkten Aktion setzt. Der ist noch einmal anders als seine Bewunderer in der Studentenbewegung dachten. Kraushaar weist überdies darauf hin, dass Benjamin für die Studenten nach ihren Enttäuschungen mit Horkheimer und Adorno, die den Vietnamkrieg der Amerikaner verteidigten, als der eigentliche Revolutionär der Frankfurter Schule galt, der sich bereits mit dem Text „Zur Kritik der Gewalt“ von 1921, dann aber vor allen Dingen mit den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ von 1940 an die Revolutionierung der Revolutionäre gewagt habe.
Vom Erfahrungsverlust zum Ausnahmezustand
Der folgende Aufsatz zum Erfahrungsbruch nimmt einen weiteren Faden des liegengebliebenen Dissertationsprojekts auf. Er beginnt mit Motiven der Unterbrechung und des Innehaltens in Benjamins Physiognomie und im Text, um sich dann einer Dialektik des Erfahrungsverlust und der Verlusterfahrung zuzuwenden. Dessen politische Implikationen zeichnet Kraushaar instruktiv nach und aktualisiert sie nicht allein im Hinblick auf die Achtundsechziger-Bewegung, sondern verfolgt sie bis heute.
Von dieser Aktualisierung handeln auch die letzten beiden Texte zum Ausnahmezustand. Was die damaligen Studenten und die politischen Denker bis heute besonders interessiert, sind Benjamins entsprechende Überlegungen, die er Anfang der Zwanzigerjahre zusammen mit Carl Schmitt und gegen diesen anstellt. Schmitt – Verteidiger der Morde des sogenannten Röhm-Putsches 1934 und der Nürnberger Rassegesetze 1935 – war zu der Zeit noch Anhänger des Reichskanzlers von Papen. Er befindet sich aber bereits auf dem Weg zur eigenen Faschisierung: hatte er der doch wichtige Texte zur Kritik des Parlamentarismus, der Diktatur als Regierungsform und der Politischen Theologie veröffentlicht. Er war längst Anhänger Mussolinis und einer nationalen Revolution, als welche er auch die Oktoberrevolution von 1917 in Russland erkennen wollte. Benjamin, der aus der Jugendbewegung kam und auch dort von einer anderen Gemeinschaft als die der Nazis und ihrer „Volksgemeinschaft“ ausging, besitzt dennoch einige Berührungspunkte mit Schmitt. Diese „gefährlichen Beziehungen“ (Susanne Heil) hatten dazu geführt, dass sein Briefwechsel mit dem NS-Juristen – der 1936 bei den Nazis selbst in Ungnade fällt, aber weit über dessen Ende hinaus ihren Angriffskrieg weiter glühend verteidigt – von Adorno und Scholem aus dem ersten Band der Briefe Walter Benjamins ausgeschlossen worden war.
Walter Benjamin und der bewaffnete Kampf
Der Ausnahmezustand war nun als Notstand etwas, was auch die Studenten von 1967/68 interessierte. Und so finden sich in der Zelle von Andreas Baader in Stuttgart-Stammheim nicht nur Ausgaben von Benjamins Geschichtsthesen, sondern auch von Carl Schmitts Werk über den Partisanenkampf im Nachkriegsdeutschland von 1963.[1] Schmitt denkt die Herbeiführung des Ausnahmezustands von rechts, was Andreas Baader ebenso interessierte. Die Nazis hatten bekanntlich am 28. Februar 1933 den Ausnahmezustand ausgerufen und ihn von selbst nie wieder beendet; er war die Voraussetzung ihrer Politik und endete erst 1945. In gewisser Weise setzte das Viermächteabkommen diesen Status fort. Das galt besonders für Berlin und besitzt ebenfalls noch Auswirkungen bis heute. So wurden die Bundesrepublik und später die DDR nach 1945 zum Tummelplatz für Aktionen der US-Army, der CIA, der Roten Armee und des KGB, vertreten auch durch die lokalen Dienste wie MAD und BND im Westen und die Stasi im Osten. Diese heuerte ihrerseits 1958 unter anderem Ulrike Meinhof (bereits 1956 ihren Mann Klaus Rainer Röhl) als Agenten an und gewährte später abgetauchten RAF-Mitgliedern im Osten unterschlupf.
Kraushaar erinnert daran, dass diese Überlegungen für die Studenten zwischen 1968 und dem „Deutschen Herbst“ 1977 wichtig wurden, nämlich zwischen den Aktionen des SDS gegen die Notstandsgesetze und der Entführung von Hanns Martin Schleyer durch die Rote-Armee-Fraktion. Nicht ohne Grund befürchteten die Studenten 1967, dass der Bundesrepublik ähnliche juristische Maßnahmen wie der Weimarer Republik an ihrem Ende ins Haus standen, an denen Schüler von Carl Schmitt wiederum in Amt und Würden maßgeblich beteiligt waren. Dass in der alten „Bunzeplik“ (Martin Walser) der Rechtsradikalismus nicht außen in der NPD, sondern hauptsächlich innerhalb der legalen Institutionen anzutreffen war, ist bereits 1968 kein Geheimnis. So ist das Bundesverfassungsgericht noch Jahre über diese Periode hinaus mit entsprechenden Leuten besetzt. Kraushaar, der damals der Asta-Vorsitzende der Universität war, schreibt: „Der Adorno Schüler und führende Kopf im Frankfurter SDS, Hans-Jürgen Krahl […] vertrat die Ansicht, dass sich der Staat damit den Faschismus als Handlungsoption für Krisenzeiten inkorporiert hätte.“ Das war also eine Motivation für die Studenten, Benjamins Lesarten des „wirklichen Ausnahmezustands“ dagegenzusetzen.
Im Deutschen Herbst 1977 fanden die Gesetze um den Paragraf 34 Grundgesetz tatsächlich Anwendung gegen die Rote-Armee-Fraktion, wie es Kraushaar, der nicht nur der durchaus kritische Chronist der Studentenbewegung, sondern auch des linken Terrorismus in Deutschland ist, und sich dabei einen nüchternen Ton angeeignet hat, genau nachzeichnet. Ob Andreas Baader, der Benjamins VIII. These über die „Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes“ in einem Kassiber zitiert, Benjamin wirklich missversteht, wie es Kraushaar auch mit Bezug auf Irving Wohlfarth meint, bleibt dahingestellt. Eine genaue Lesart von Benjamins Text „Zur Kritik der Gewalt“ von 1921 zeigt bei diesem eine verschlüsselte, aber gleichwohl vorhandene Verteidigung des Tyrannenmordes als direkte politische Aktion – und eben keine romantische „messianische Aufgabe“. Das eine bestand im andern.
Eine falsche Inanspruchnahme
Kraushaar betont die falsche Inanspruchnahme Benjamins durch die RAF mit der These, dass die Bundesrepublik zu einem faschistischen Staat geworden sei. Dadurch wäre eine eigene Notwehr im Sinne des „wirklichen Ausnahmezustandes“ mitnichten gerechtfertigt. Auch spricht er sich gegen Giorgio Agambens reduzierte Lesart aus und hält ihm, wenn er aus Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ seine Figur des homo sacer ableiten will, eine falsche Universalisierung und mangelnde Trennschärfe vor. In seinem letzten Text legt Kraushaar dann erneut Rechenschaft ab, diesmal über seine Methode und seine Rolle als Historiker und Chronist der Revolte vor dem Hintergrund der Benjamin‘schen Geschichtsthesen.
Walter Benjamins „wirkliche politische Physiognomie“
Insgesamt erscheint hier also ein politischer und aktualisierter Benjamin, der von Kraushaar mit Verve, aber auch mit Trennschärfe und wichtiger Distanz zu einer allzu forschen Vereinnahmung für entsprechende Revolutionstheorien kritisch in Stellung gebracht wird. Benjamins Politikbegriff werde in der Rezeption oft genug entweder verharmlosend mit Messianismus gleichgesetzt oder seine Radikalität politisch hypostasiert, lautet sein Urteil. Hinter Benjamins Vorstellung stehe zuallererst die politische Idee einer umfassenden Gerechtigkeit.
Wie selten sonst in den vielfältigen Schriften über den deutsch-jüdischen Philosophen tritt hier Benjamins „wirkliche politische Physiognomie“ in ihren Umrissen hervor, wo sie an anderer Stelle zur verspiegelten Projektionsfläche eigener Vorstellungen geworden ist. Im unübersichtlichen Meer der internationalen Benjamin-Bewunderer ist nur bei Chrysoula Kambas eine ähnliche Insel der Nüchternen zu finden, wie in Kraushaars Buch.[2] Am Ende von dessen Exposé zur ungeschriebenen Dissertation heißt es denn auch:
»Gegenüber einer Auffassung, der Benjamins Passagenwerk als „kulturhistorisch interessant“ erscheint, gilt es den bislang verborgen gebliebenen revolutionstheoretischen Sinn seines Hauptwerks und die Wirksamkeit des darin entwickelten Begriffsinstrumentariums unter Beweis zu stellen. Vielleicht werden sich dann die Feuilletonisten, die bei der Nennung seines Namens glänzende Augen bekommen, dieselbigen endlich zu reiben beginnen.«
Die Aufgabe besteht immer noch, Kraushaars Ansatz hat sich nicht überlebt. Freilich wird auch hier eine falsche Dichotomie zwischen Feuilleton und Politik deutlich. Kraushaars Buch sei dennoch jedem empfohlen, der sich mit einem Benjamin auseinandersetzen will, der bis heute nicht nur in politischer Hinsicht kaum verstanden worden ist.
[1] Vgl. Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Duncker & Humblot 1963.
[2] Vgl., Chryssoula Kambas, „Walter Benjamin liest Georges Sorel: Réflexions sur la Violence,“ In: „Aber ein Sturm weht vom Paradiese her.“ Texte Zu Walter Benjamin, hrsg. von Michael Opitz u. Erdmut Wizisla, Leipzig: Reclam 1992, S. 250–269.