Flugzeugattentate und einen nie aufgeklärten Brandanschlag auf das Israelitische Gemeindehaus in München im Februar 1970 fügt Wolfgang Kraushaar zu dem Bild einer einzigen antizionistischen Terrorwelle zusammen. Doch wie gut belegt ist der Zusammenhang, und was wissen wir über die Täter?
Joachim Güntner , Neue Zürcher Zeitung, 14. März 2013
Der bundesdeutsche Linksterrorismus nahm nicht erst mit der RAF Gestalt an. Am 9. November 1969, dem Jahrestag der «Reichskristallnacht», deponierte der Kommunarde Albert Fichter eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus Berlins. Über zweihundert Menschen waren dort zum Gedenken an die nazistische Pogromnacht zusammengekommen. Den Bombenanschlag hatten die «Tupamaros West-Berlin» geplant, die sich als Stadtguerilla nach lateinamerikanischem Vorbild verstanden.
Ihr Anführer Dieter Kunzelmann, linksradikaler Politclown und Gründer der «Kommune I», pries den bewaffneten Kampf als Schule des revolutionären Selbstbewusstseins. Vor dem Attentat auf das Gemeindehaus war er mit seiner Gruppe nach Jordanien gereist, wo Palästinenserführer Arafat die deutschen Revoluzzer empfangen hatte. Eine kurze paramilitärische Ausbildung hatte sich angeschlossen, und die Genossin Ina Siepmann war sogar in Amman geblieben und hielt so Kontakt zur Fatah.
München «vollendete» Berlin
Da der Zünddraht korrodiert war, explodierte die Bombe im Gemeindehaus nicht. Es lag wohl auch daran, dass ein agent provocateur des Verfassungsschutzes die vermeintliche Höllenmaschine geliefert hatte. Nur kam es darauf gar nicht an. Die mörderische Absicht lag zutage und sorgte für Entsetzen. 2005 widmete Wolfgang Kraushaar, Chronist der Studentenbewegung und Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, dem Fall eine ausgiebige Studie. Sein Fazit akzentuierte «die Tatsache, dass sich der erste terroristische Angriff überhaupt», den die Bonner Republik erlebte, «gegen Juden richtete». Dies verweise, so Kraushaar, «auf die ungebrochene Wirksamkeit eines antisemitischen Latenzzusammenhangs».
Bezogen auf einen rechtsradikalen Anschlag wäre diese Diagnose banal gewesen. Doch Kraushaar sagte ja, dass der Schoss, woraus der ewige Antisemitismus kroch, sich ausgerechnet in der Neuen Linken fruchtbar zeigte. Wenn schon nicht für alle Achtundsechziger, so sei doch für die deutsche Stadtguerilla und die RAF die Aversion gegen die Juden eine Bedingung ihres Daseins gewesen. Daran schloss sich eine Debatte über linken Antisemitismus an.
Das neue Buch des Hamburger Zeithistorikers bleibt dieser Linie treu. «Wann endlich beginnt bei Euch der organisierte Kampf gegen die heilige Kuh Israel?», hatte Kunzelmann in einem als «Brief aus Amman» fingierten Pamphlet, worin er auch den Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus rechtfertigte, die Westberliner Szene gefragt. Kraushaar dienen diese Worte als Buchtitel und als Beleg für Kunzelmanns üble Gesinnung. Ein ähnlich belastendes Zitat steuert Kraushaar von Ulrike Meinhof bei. Die RAF-Terroristin hatte, obgleich alle israelischen Geiseln starben, am mörderischen Überfall des palästinensischen Kommandos «Schwarzer September» auf Israels Olympiamannschaft 1972 in München die «Menschlichkeit» gelobt.
Kraushaars Augenmerk liegt auf München, aber er will eine Umwertung dessen, was sich als bedeutsam mit dieser Stadt verknüpft. Nicht das blutige Drama im olympischen Dorf, sondern fünf Anschläge, von denen vier in München ausgeführt oder organisiert worden waren, und dies innerhalb von elf Tagen des Februars 1970, nimmt er sich vor. Diese «Terrorwelle» habe sich gegen Israeli und Juden gerichtet und sei mit 55 Toten die «opferreichste» in Mitteleuropa seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen. An «München 1970», so Kraushaars These, liessen sich die «antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus» studieren. Zum Beleg dient ihm vor allem ein Brandanschlag auf das Gemeindehaus der Israelitischen Kultusgemeinde am 13. Februar. Sieben Menschen starben damals; einige von ihnen hatten den Holocaust überlebt.
Auf rund 700 Seiten Text, ergänzt um 170 Seiten Anhang, sucht der Autor seine These zu erhärten, wonach diese Brandstiftung einer linken «Aktion Südfront» und damit dem Umfeld der «Tupamaros München» zuzurechnen sei. Vieles spreche dafür, «dass der Mordanschlag vom 13. Februar 1970 die Fortsetzung und in negativer Hinsicht die ‹Vollendung› des am 9. November 1969 versuchten, aber gescheiterten Bombenanschlags auf das Jüdische Gemeindehaus in West-Berlin gewesen» sei. Am Ende hat Kraushaar eine lange und nur mässig schlüssige Indizienkette gebastelt. Er treibt einen enormen Aufwand, wuchert mit Details und muss doch zugeben: Bewiesen ist nichts. Anstelle des achtzehnjährigen Lehrlings, eines erklärten «Anarchisten» ohne Alibi, den Kraushaar zum Hauptverdächtigen erhebt, könnten auch antiisraelische Organisationen aus dem Nahen Osten, fanatisierte arabische Studenten in München oder Neonazis den Brand gelegt haben.
Als verschwörungstheoretische Fleissarbeit geht das Buch dem Leser gehörig auf die Nerven. So viel Stoff, so viele Mutmassungen – und so wenig Stringenz. Die unmissverständlich antisemitischen Äusserungen Dieter Kunzelmanns, namentlich dessen Wort vom «Judenknax» der Linken, deren «simpler Philosemitismus» eine eindeutige Solidarität mit palästinensischen Freiheitskämpfern verhindere, hat Kraushaar schon 2005 aufgeboten. Will man sich mit der These auseinandersetzen, dass der Antizionismus der radikalen Linken nur ein verschleierter, sich «ehrbar» gebender Antisemitismus ist, so lese man besser Jean Améry oder Henryk M. Broder. Einzig als Zeitreise in die frühen siebziger Jahre vermag Kraushaars neues Buch zu überzeugen; ironischerweise jedoch eher mit jenen Passagen, die nicht in München spielen.
Man wird daran erinnert, dass es einmal eine Epoche des Flugreisens ohne Gepäckkontrolle und Leibesvisitation gab – und wie die ersten Flugzeugentführungen dies änderten. Der Terror als Mittel asymmetrischer Kriegsführung im Nahostkonflikt, Jordaniens Rolle als Aufmarschgebiet für Palästinenser und das verwirrende Geflecht der unter dem Dach der PLO versammelten Gruppierungen geraten in den Blick. Schweizer Leser werden schmerzliche Genugtuung darin finden, mit welcher Ausgiebigkeit der Autor den furchtbaren Absturz einer Swissair-Maschine am 21. Februar 1970 in Würenlingen behandelt. Obgleich die Täter dieses Anschlags bekannt waren, wurden sie nie vor Gericht gestellt.
Phantasie und Wirklichkeit
Wo Kraushaar allerdings den grossen zeithistorischen Bogen auf die Tupamaros zurücklenkt und erklärt, zwischen ihnen und der Fatah habe eine «Arbeitsteilung» bestanden, wirkt das hergeholt. «Denkbar» sei, schreibt Kraushaar, «dass Kunzelmann den Palästinensern überhaupt den Anstoss vermittelt hat, sich mit dem Grossthema Olympia 1972 näher zu befassen». Zur Ausschmückung zitiert der Autor aus Notizen des Tupamaros Georg von Rauch, der sich schon früh einen «Sturm auf das Olympiadorf» ausgemalt hatte, dem die Versenkung von US-Schlachtschiffen in deutschen Häfen folgen würde. Soll man derlei Delirien wirklich als «Planspiel» ernst nehmen?
Noch 2005 hatte Kraushaar betont: «In der Phase der ersten, sich aus der Subkultur herausschälenden terroristischen Gruppen war Drogenkonsum von einer ausserordentlichen, bislang zumeist sträflich vernachlässigten Bedeutung.» Phantasie und Wirklichkeit strenger zu scheiden, hätte auch dem Autor Kraushaar bei seinem neuen Buch gut angestanden.