Deutsche "whodunit"
Bis heute ist der Brandanschlag auf ein jüdisches Altersheim in München 1970 nicht aufgeklärt. In seinem neuen Buch versucht Wolfgang Kraushaar zu belegen, dass hinter dem Attentat die militante deutsche Linke steckte.
......Bemerkenswert ist ein weiterer Aspekt, den Kraushaar in seinem Buch nicht erwähnt: Gerade wenn man annimmt, dass hinter dem Münchner Mordanschlag Neonazis steckten, fällt auf, dass die neue militante Linke sich weder mit den Opfern solidarisierte noch gegen Nazis aktiv wurde.....
von Olaf Kistenmacher
Wolfgang Kraushaars neues Buch »›Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?‹ München 1970: Über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus« lässt sich besser verstehen, wenn man es mit dem Vorgänger, seiner Studie »Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus«, vergleicht. 2005 konnte Kraushaar den glücklicherweise misslungenen Sprengstoffanschlag auf die Berliner Jüdische Gemeinde am 9. November 1969 aufklären. Zu dem Attentat hatten sich seinerzeit die Tupamaros West-Berlin/Schwarze Ratten in der Szenezeitschrift Agit 883 bekannt. Über 30 Jahre später schilderte ein ehemaliges Mitglied der Tupamaros, Albert Fichter, in einem Interview mit Kraushaar, wie er am Vorabend zu einer Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht der Nationalsozialisten den Sprengsatz deponierte. Drei Monate nach Fichters Tat, im Februar 1970, legten Unbekannte Feuer im Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde München. Sieben Jüdinnen und Juden, Überlebende der Shoa, starben. Kraushaar meint nun, den Täter präsentieren zu können: ein junges Mitglied des neu gegründeten Münchner Ablegers der Tupamaros, einen damals 18jährigen Lehrling. Kraushaar nennt keinen Namen. Für seinen Verdacht gibt es keine Beweise. Anders als in Berlin bekannten sich die Münchner Tupamaros nicht zu dem Brandanschlag, sondern distanzierten sich, wie auch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und die Generalunion Palästinensischer Studenten. In ihrer ersten Presseerklärung schrieben die Tupamaros aus München: »man wird versuchen, uns auch den altersheimbrand in die schuhe zu schieben! laßt euch gesagt sein: wir treffen keine unschuldigen!«
Es ist also möglich, dass alte oder neue Nazis die Tat begangen haben. Darauf gibt es einzelne Hinweise, die die Polizei jedoch als Fälschungen einstufte. Kraushaar stellt das Münchner Attentat in den Kontext der Zusammenarbeit zwischen palästinensischen Kommandos und der militanten Linken in Deutschland, einer Kooperation, die 1972 mit der blutigen Geiselnahme israelischer Sportler bei den Olympischen Spielen in München einen weiteren schrecklichen Höhepunkt erreichte. Deutsche Linke um das Anti-Olympia-Komitee wollten die Spiele in München verhindern. Die Tupamaros wollten sie sogar »sprengen«.
Für Kraushaars These sprechen außer der zeitlichen Nähe zwischen dem Berliner und dem Münchner Anschlag einige Indizien. Brandanschläge waren eine übliche Aktionsform der Tupamaros und der späteren Rote Armee Fraktion (RAF). Die Bombe in Berlin hatte außerdem gezeigt, dass das Feindbild »Zionismus« sich auch gegen Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Deutschland richten konnte. Wenige Wochen nach dem Münchner Anschlag bekannte sich eine palästinensische Organisation in einem englischsprachigen Brief an die deutsche Botschaft in Kuwait zu dem Brandanschlag, wies aber darauf hin, das Feuer in dem »Zionistengebäude« hätten »deutsche Jugendliche« gelegt, die sich für die »palästinensische Sache« engagierten. 1976 sagte das ehemalige RAF-Mitglied Gerhard Müller als Kronzeuge aus, Gudrun Ensslin habe die Täter gekannt. Zu Irmgard Möller, die zu den Münchner Tupamaros gehört hatte, soll sie gesagt haben: »Diese Arschlöcher! Gut, daß diese Sache den Neonazis untergeschoben wurde.«
Ein vages Indiz präsentierte im vergangenen Jahr die ARD-Dokumentation von Georg M. Hafner, »München 1970. Als der Terror zu uns kam«: Bevor er endgültig untertauchte, traf sich Fritz Teufel, der als Kopf der Münchner Tupamaros gilt, am 6. Februar 1970 heimlich mit Fernsehjournalisten und prophezeite, dass er »wegen der Sachen, die in Zukunft laufen werden«, einige Jahre Gefängnishaft bekommen werde. Bemerkenswert ist ein weiterer Aspekt, den Kraushaar in seinem Buch nicht erwähnt: Gerade wenn man annimmt, dass hinter dem Münchner Mordanschlag Neonazis steckten, fällt auf, dass die neue militante Linke sich weder mit den Opfern solidarisierte noch gegen Nazis aktiv wurde. Nach der kruden Verschwörungstheorie der Münchner Tupamaros hätten die Attentäter vielmehr im Dienst Israels gehandelt: »diesen neuen reichstagsbrand im altersheim können nur leute gelegt haben, die daran interessiert sind, die hexenjagd auf die feinde des us-zionistischen imperialismus zu eröffnen.«
Mehr als die Hälfte des Buchs handelt nicht von der außerparlamentarischen Linken in Deutschland, sondern von den Flugzeugentführungen und Bombenattentaten palästinensischer Kommandos, für die die deutsche radikale Linke unumwunden Sympathie zeigte. Die Berliner Tupamaros um Dieter Kunzelmann reisten 1969 in jordanische Ausbildungslager der Fatah. In seinem zweiten »Brief aus Amman«, abgedruckt in der Agit 883, fordert Kunzelmann, »die verzweifelten Todeskommandos« der Palästinenser durch »besser organisierte zielgerichtete Kommandos zu ersetzen, die von uns selbst durchgeführt werden«. Aus diesem Brief stammt auch das titelgebende Zitat für Kraushaars Buch: »Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?« Die vermeintliche Tatenlosigkeit deutscher Linker führt Kunzelmann auf ihren »Judenknax« zurück: »Dass die Politmasken vom Palestina-Komitee die Bombenchance nicht genutzt haben, um eine Kampagne zu starten, zeigt nur ihr rein theoretisches Verhältnis zu politischer Arbeit und die Vorherrschaft des Judenkomplexes bei allen Fragestellungen.«
Zwischen den deutschen militanten Linken und palästinensischen Kommandos bestanden mehrere ideologische Übereinstimmungen. Dass deutsche Linke die Palästinenserinnen und Palästinenser als »Opfer der Opfer« ansahen, wird heute oft mit dem sogenannten Schuldabwehr-Antisemitismus erklärt, mit dem Bemühen, die Shoa zu relativieren. Ähnlich argumentieren jedoch auch die Sprecher palästinensischer Organisationen. Issam al-Sartawi, der für die versuchte Entführung einer El-Al-Maschine vom Münchner Flughafen Riem 1970 die Verantwortung übernahm, erklärte gegenüber deutschen Journalisten, warum er die BRD als »feindliches Gebiet« betrachte. »Westdeutschland könne sich rühmen, in einer Generation zwei Völkermorde begangen zu haben. Den Völkermord an den Juden und – durch die überlebenden Juden – den Völkermord an den Arabern.« In einem ARD-Interview, das 1970 geführt wurde, nannte Ali Hassan Salameh von der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) einen Grund, warum man sich nach 1969 nicht mehr zu Anschlägen auf jüdische Einrichtungen bekennen wollte. Denn zum einen sei, so Salameh, der »Zionismus« »über ganz Europa verbreitet« und müsse überall angegriffen werden. Zum anderen wollte man mit spektakulären Aktionen internationales Mitgefühl für das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung wecken. Durch Anschläge auf Unbeteiligte verspielte man sich allerdings eine solche Sympathie.
Wolfgang Kraushaar ist Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Sein Buch war bereits für 2012 im hauseigenen Verlag unter dem Titel »München 1970. Die Anschlagserie im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1972« angekündigt worden, wurde jedoch kurzfristig ohne Angabe von Gründen zurückgezogen.
Das größte Verdienst seines Buchs besteht darin, an einen antisemitischen Anschlag zu erinnern, der lange Zeit in Vergessenheit geraten war. An seiner Aufklärung müssten besonders diejenigen interessiert sein, die nicht glauben wollen, dass ihn deutsche Linke begangen haben können. Als Täter kommen nach wie vor deutsche Neonazis in Frage, von denen etwa die Wehrsportgruppe Hoffmann in den siebziger Jahren ebenfalls in palästinensischen Ausbildungslagern trainierte und die, wie 1980 in Erlangen, Morde an Jüdinnen und Juden begingen. Dass deutsche Linke an antisemitischen Attentaten beteiligt waren, dafür gibt es viele Belege. Noch 1991 verübte die RAF einen Anschlag auf einen Reisebus mit jüdischen Auswanderinnen und Auswanderern in Ungarn. Leider ergeht sich Kraushaar zu sehr in Spekulationen über eine mögliche linke Urheberschaft des Anschlags auf die Münchner Israelitische Gemeinde, anstatt die Stimmung innerhalb der radikalen Linken zu untersuchen. Der Historiker Knud Andresen hat am Beispiel der Agit 883 gezeigt, dass außerparlamentarische Linke, die den Anschlag auf die Berliner Jüdische Gemeinde verurteilten, die terroristische Aktionsform, aber nicht die antisemitische Intention kritisierten. Beispiele für eine solche eher alltägliche Form der Judenfeindschaft finden sich in Kraushaars Buch zu wenige. Die Zeitschrift Kürbiskern, die sich von dem Münchner Anschlag distanzierte und vor einer antiarabischen Stimmung warnte, spekulierte darüber, ob die Israelitische Gemeinde in München zugleich das »geheime Hauptquartier« einer »rechtszionistischen Organisation« und ob das der Grund für den Anschlag gewesen sei. Fritz Teufel beschwerte sich in einem Brief aus dem Gefängnis, dass er im Radio oft Simon & Garfunkel höre, das »Zionistenduo mit dem israelischen Luftwaffenhit«.
Wie Kraushaar in seinem Buch von 2005 gezeigt hat, steckte Dieter Kunzelmann, der anführer der Westberliner Tupamaros, hinter dem Anschlag auf die Berliner Jüdische Gemeinde. Fünf Monate später machte Kunzelmann Israel selbst für den Anschlag in München verantwortlich, zu dem sich niemand bekannte. Er schrieb in der Agit 883, es handle sich um ein »zionistisches Massaker«, begangen von einer israelische Organisationen mit dem Ziel, Jüdinnen und Juden nach Israel zu holen. »Verbrennen sieben unschuldige Rentner, dann emigrieren andere Juden vor dem Gespenst des heraufziehenden Faschismus hitlerischer Prägung.« Das Problem des Antisemitismus bestand also auch unabhängig von der Frage, ob die Tupamaros hinter dem Anschlag in München steckten oder nicht.