Frankfurter Rundschau über Der Spiegel, Bestenliste, Juli 2024:
Wolfgang Kraushaars Sachbuch gelingt nach dem Erscheinen ein Einstieg in die Top-10 der Bestsellerliste. Zudem wurde der Titel in die Liste der „Sachbücher des Monats Juli 2024“ von RBB Kultur, Die Welt, NZZ und ORF Radio Ö1 aufgenommen. Wolfgang Kraushaar analysiert und kategorisiert verschiedene Diskurse, wobei er antisemitische Klischees von validen Argumenten unterscheidet, wie der Verlag mitteilt. Während er die zivilisatorischen Minimalanforderungen herausstellt, präzisiert er ebenso den Umgang mit Problem- und Grenzfällen.
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Rezension SZ:
(sehe auch Text unter dem Artikel der SZ)
Das Denken entwirren
11. Juni, 2024
Ist der Nahostkonflikt unlösbar? Vielleicht. Ist er auch unverstehbar? Das nicht: Wolfgang Kraushaar liefert das überfällige Handbuch zum Thema.
Von Jens-Christian Rabe -Süddeutsche Zeitung
Von einem „scheinbar unlösbaren Konflikt“ ist im Untertitel von Wolf- gang Kraushaars neuem Buchs „Isra- el, Hamas, Gaza, Palästina“ die Rede. Der Untertitel lässt nicht nur eine eher lakonisch-desillusionierte Lesart zu, sondern auch eine, die den spektakulären Eindruck erweckt, der Publizist und Politikwissenschaftler Kraushaar sei endlich der Mensch, der wisse, warum der immer nur weiter eskalierende Konflikt eigentlich lös- bar ist. Das ist aus Verlagssicht verständlich, aber nicht glücklich – und vielleicht der einzige Fehler dieses in seiner Aufmachung sonst denkbar unscheinbaren und doch äußerst bemerkenswerten Buchs. Auf die Spur dessen, was Kraushaar im Buch eigentlich versucht, bringt einen viel besser das vorangestellte Zitat, das Konfuzius zugeschrieben wird: „Zuerst verwirren sich die Werte, dann verwirrt sich das Denken. Und wenn sich das Denken ver- wirrt, dann gerät die Politik in Unordnung. Und wenn das passiert, stürzt der Himmel ein.“
Nichteinmischung ist auch keine Lösung, argumentiert Kraushaar
Kraushaar, der mit Büchern über Protestbewegungen und linken Terrorismus und Antisemitismus bekannt wurde, will das (deutsche) Denken über diesen Kon- flikt entwirren, und dieses auch recht titanische Unterfangen gelingt ihm bravourös. Bei der heiklen Frage, ob sich Deutsche überhaupt in israelische Belange (kritisch) einmischen sollten, verweist er auf den israelischen Philosophen Omri Boehm, der für sein Buch „Radikaler Universalismus“ gerade den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. In seinem vor vier Jahren erschienenen Buch „Israel – Ei- ne Utopie“ schreibt Boehm, dass sich ein Deutscher, der sich in Bezug auf die israelische Politik Selbstzensur auferlege, weigere, den „Standpunkt der Aufklärung“ ein- zunehmen: „Er weigert sich buchstäblich, selbst zu denken.“ Kraushaar geht sogar so weit, zu sagen, dass das Nichteinmischungsgebot womöglich nicht nur keine Lösung, sondern noch ein wesentlicher Teil des Problems ist – und liefert tatsächlich eine so zugänglich geschriebene wie nüchtern-informierte Anleitung zum Verständnis dieses Konflikts.
Kern des Buchs sind die vier Hauptkapittel in der Mitte. Los geht es mit den „Topoi“ der Diskussion (unter anderem Zionismus, Palästina, Gazastreifen, Westjordanland, Hamas), dann werden die notorischen „Gleichsetzungen“ geprüft (unter anderem Nakba gleich Holocaust, Gaza gleich Ghetto, Westjordanland gleich Apartheid, Hamas gleich Befreiungsbewegung), be- vor es um „Parolen und Narrative“ (unter anderem Schuldabwehr, „Free Palestine“, „Free Gaza from Hamas“, „From the River to the Sea“) und schließlich um die einschlägigen „Meta-Diskurse“ geht (unter anderem Staatsräson, Genozid, Zwei-Staaten-Lösung, Antisemitismus, Islamismus).
Heißeste Eisen allesamt, derer sich Kraushaar nicht einfach nur furchtlos, sondern vor allem angenehm umsichtig an- nimmt, was bedauerlicherweise alles andere als selbstverständlich ist. Seine Analysen blicken dabei nicht nur in die Geschichte, sondern betrachten immer wieder auch die jeweiligen jüngeren und jüngsten Entwicklungen und Debatten. Kraushaars erklärtes Ziel dabei: „Grundlagen sichtbar machen“.
Nicht jedem etwa, der die berüchtigte Parole „From the River to the Sea – Palestine will be free“ skandiert, so Kraushaar, mag klar sein, dass er – weil mit dem Fluss, um den es da geht, der Jordan gemeint ist, und mit dem Meer das Mittelmeer – damit die Auslöschung des israelischen Staates fordert. Auf jeden Fall aber könne jeder in Erfahrung bringen, dass genau das die Ha- mas fordere. Umgekehrt unterschlägt er auch nicht, dass viele Vertreter der in der israelischen Politik derzeit tonangebenden nationalkonservativen Rechten ein „Groß- Israel“ forderten, das seinerseits keinen Platz für einen Palästinenserstaat vor- sieht. Es könne auch nicht bezweifelt wer- den, dass diese Position zum „Selbstverständnis“ von Regierungschef Benjamin Netanjahu gehöre, selbst „wenn er sie angesichts der israelischen Abhängigkeit von den USA eher hinter vorgehaltener Hand als offen für sich zu beanspruchen“ wage.
Es geht Kraushaar spürbar darum, den Stand der Dinge nicht polarisierend, son- dern so genau wie möglich zu entfalten. Aber nicht trocken-lexikonhaft und pseudo-objektiv, sondern schlicht rechtschaffen. Die oft allzu leichtfertig oder taktisch verwendeten Schlagwörter nimmt Kraushaar wieder als Begriffe ernst, die keine rhetorischen Waffen sind, sondern einen überprüfbaren Inhalt und Sinn haben.
Gerade einmal viereinhalb Seiten wid- met Kraushaar dem häufig vorgebrachten schweren Vorwurf, Israel begehe in Gaza ei- nen Genozid. Die haben es aber in sich. Zu- nächst weist Kraushaar darauf hin, dass unter Historikern, Völkerrechtlern und Sozialwissenschaftlern keine Einigkeit dar- über herrscht, ob der Begriff im Fall Gaza angemessen ist. Er warnt deshalb davor, den Begriff „zu rasch und zu unkritisch“ zu gebrauchen, nicht zuletzt, weil seine Verwendung interessengeleitet sein könnte: Politische Gegner ließen sich schließlich kaum effektiver diskreditieren.
Mit Blick auf die Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen, für die die „Absicht“ wesentlich ist, „eine nationale, ethische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, legt Kraushaar dar, dass der entscheiden- de Punkt im Nachweis eines genozidalen Aktes (für den die quantitative Dimension völkerrechtlich im Übrigen eine untergeordnete Rolle spielt) im Falle von Israels Vorgehen in Gaza fehle. Legitimes Kriegs- ziel sei erklärtermaßen die Vernichtung der Hamas, die per definitionem am 7. Oktober wiederum ihrerseits einen – über Monate geplanten – genozidalen Akt begangen habe. Könnte jedoch, so Kraushaar, ein legitimes Kriegsziel im gewaltsamen Akt seiner Verfolgung in ein „als genozidal einzustufendes Verbrechen umschlagen“? Das sei „durchaus denkbar“ und könne al- lein durch die abstrakte Berufung auf Legitimität nicht ausgeschlossen werden.
Ähnlich besonnen-instruktiv entfaltet sich das Kapitel zum Apartheid-Vorwurf gegen Israel. Die 750 000 israelischen Siedler, deren Vorstoß in ein Kerngebiet eines künftigen Palästinenserstaates nach inter- nationalem Recht als illegal einzustufen sei, und die drei Millionen Palästinenser agierten im Westjordanland etwa jeweils in ganz unterschiedlichen Rechtssystemen. Die Siedler seien Bürger des demokratischen Rechtsstaats Israel, die Palästinenser dagegen lebten de jure in einem Militär- regime. Konkret bedeute das, dass sie will- kürlich enteignet oder sogar verhaftet wer- den können und im Falle des Falles keiner zivilen Rechtsprechung, sondern Richtern des israelischen Militärs unterstehen.
Der Schluss ist danach fast lehrbuch- haft. Er handelt als eine Art Zusammenfassung der Zusammenfassungen von zwölf „Essentials“, den zwölf essenziellen Erkenntnissen des Vorherigen. Dass das nicht redundant gerät, liegt daran, dass Kraushaar hier noch einmal vorbildlich dialektisch essayhaft versucht, die ganze Ver-
zwicktheit der Situation zu fassen zu kriegen. Hier zählt nun wirklich jedes Wörtchen doppelt, und man spürt im besten Sin- ne, dass das dem Autor bei der Niederschrift bewusst war.
Zuerst geht es um die Grundlagen der Lage vor Ort. Ganz am Beginn steht für Kraushaar die Tatsache, dass sich Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ ver- steht. Als solcher wiederum befindet er sich im Grunde seit seiner Gründung „in ei- nem offenen oder einem latenten Kriegszustand“. Nicht zuletzt, weil die Gründung seinerzeit auch mit einem „Vertreibungsverbrechen“ einherging. Auch im fünfundsiebzigsten Jahr des Bestehens ist die Vertreibung der Palästinenser „wohl immer noch größte Hypothek des Staates Israel“.
Eine Zwei-Staaten-Lösung hält Kraushaar für
„eher unwahrscheinlich“
Diese Vertreibung, von den Palästinensern „Nakba“ genannt, sei allerdings, so Kraushaar, „nicht mit der Shoa gleichzusetzen“. So „tragisch und bitter Vertreibung und Massenflucht für die Palästinenser un- bestreitbar war“, stelle sie „keinen genozidalen Akt“ dar. Das „Pogrom“ vom 7. Oktober habe die prekäre Lage des israelischen Staates vielleicht stärker als je zuvor sicht- bar gemacht. Das Recht auf Selbstverteidigung sei deshalb legitim und unverzichtbar. Aber nicht um jeden Preis: „Wer die palästinensische Zivilbevölkerung monate- lang bombardiert, um dem Terrorismus der Hamas das Handwerk zu legen, der läuft Gefahr, ein weiteres Vertreibungsver- brechen zu begehen, eine zweite Nakba.“
Danach rückt Deutschland in den Blick: Die „Existenzsicherung“ Israels gehöre, soKraushaar, „zu Recht zu den unhintergehbaren Positionen deutscher Politik“. Den „obrigkeitsstaatlich vorbelasteten“ Begriff der „Staatsräson“ hält er dafür jedoch für fragwürdig. Die Solidarität mit dem Existenzrecht Israels sei nicht dasselbe wie die Nato-Beistandspflicht. Es dürfe, so Kraus- haar, auch keine „Solidarität mit einem Besatzungsregime geben, das die Menschenrechte mit Füßen“ trete. Insofern sei es auch „inakzeptabel“, jede Form der Kritik an der Regierung Netanjahu und dem Vor- gehen des Militärs „automatisch als offen oder verdeckt antisemitisch“ zurückzuweisen. Wenn die Kritik allerdings „einseitig“ ausfalle und sich weigere, das von der Ha- mas verübte Massaker zu verurteilen, „muss sie selbst einer entschiedenen Kritik unterzogen werden“. Die folgenden Essentials drehen sich um die Zukunft und klingen trivialer, als sie leider sind: Eine „bloß militärische Lösung“ des Konflikts sei „nicht vorstellbar“. Ebenso wenig un- möglich sei jedoch eine politische Lösung mit religiösen Kräften – und ohne die USA.
Die gerade insbesondere von Politik und Regierungen in aller Welt ins Spiel ge- brachte Zwei-Staaten-Lösung aus den Neunzigern hält Kraushaar danach für „eher unwahrscheinlich“. Die Siedler hätten Fakten geschaffen. Ein Versuch, diese Fakten rückgängig zu machen, würde wohl eher der Anfang eines israelischen Bürgerkriegs sein als die Erfüllung „einer wesentlichen Rahmenbedingung für eine Zwei-Staaten-Lösung“. Realistischer ist für Kraushaar eine Art binationaler Staat, in dem es vor allem einmal darum gehe, allen Bewohnern die gleichen Rechte zu ge- währen. Modell: „Two States – One Home- land“. Zwei Staaten, eine Heimat. Mehr als einen Hoffnungsschimmer wagt Kraus- haar in dieser Idee vorerst aber nicht zu se-hen, auch weil es natürlich mehr oder weniger das Ende – oder wenigstens eine deutliche Relativierung – dessen wäre, was Isra- el als jüdischer Nationalstaat heute ist.
Es wurden zuletzt diverse empfehlenswerte neue oder erstmals auf Deutsch erschienene Bücher zum Konflikt vorgelegt, etwa Benny Morris’ Dokumentation des ersten arabisch-israelischen Kriegs „1948“, Moshe Zimmermanns „Niemals Frieden? – Israel am Scheideweg“ oder Daniel Marweckis „Absolution? – Israel und die deutsche Staatsräson“. Wenn man je- doch eines für den Anfang empfehlen woll- te, wäre es Kraushaars „Israel: Hamas, Ga- za, Palästina“. Nicht zuletzt, weil man darin je nach Anlass auch immer wieder leicht Einzelnes nachschlagen und wiederlesen kann.
Mit anderen Worten: Kraushaars Buch ist die überfällige große kleine Handreichung zum Konflikt, die jedem empfohlen sei, der zwar wenig Zeit zu haben meint, aber doch das Bedürfnis hat, endlich mehr als ansatzweise durchzublicken. Dass es bislang von Kritik und Publikum weitgehend übersehen wurde, muss sich dringend ändern. Was für ein Segen wäre es, würde wenigstens hierzulande keine (Talk- show-)Diskussion mehr hinter den Stand dieses Buchs zurückfallen.